Die positiven Rückmeldungen zu meinen beiden letzten, sehr persönlichen Blogartikeln
„Der innere Sturm“ und „Die große Unsicherheit“
haben mir zu denken gegeben. Pflegeeltern bedanken sich bei mir, dass ich das, was da in ihrem eigenen Alltag geschieht, in Worte fasse. Ich lese und höre so oft, dass Pflegekinder ganz normale Kinder sind, die nur Liebe brauchen und alles ist gut. Leider sehe ich das anders. Ich freue mich von Herzen für jede Familie, bei der es tatsächlich so ist, wo es keine Probleme gibt und die Kinder glücklich aufwachsen. Es ist aber meiner Meinung nach nicht der Normalfall. Und leider ist es für die Pflegefamilien, in denen tagtäglich das reinste Chaos herrscht, eine Klatsche ins Gesicht. Weil genau die Familien, die sowieso schon weit über ihre eigenen Grenzen hinaus gehen, sich dann auch noch ständig fragen, ob sie irgendetwas falsch machen, wenn es bei ihnen halt nicht so rund läuft. Und leider ist es so, dass viele dieser Pflegemamas und Pflegepapas nicht um Hilfe bitten, weil sie Angst vor negativen Konsequenzen haben, wenn sie zugeben, dass sie manchmal einfach überfordert sind. Leider!
Jede Familie ist anders, jedes Pflegekind ist anders, jede Geschichte ist anders. Deshalb kann man gar keine pauschalen Tipps geben. Aber wenn ich mich auf eines festlegen müsste, dann wäre es das
WAHRNEHMEN.
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Einfach wahrnehmen, was ist. Ohne zu bewerten. Zu einfach? Nein, gar nicht. Sondern sogar sehr schwer. Denn um wahrzunehmen, was IST, muss man seine eigenen Interpretationen und Empfindungen rauslassen. Gerade in einer kritischen Situation ist das wirklich schwer. Es ist mir schon so oft passiert, dass ich etwas ganz anderes gesehen habe als die Mütter, die direkt neben mir standen und dasselbe Kind anschauten. Gute Mütter, empathische Mütter, aber gefangen in ihren eigenen Gefühlen. Die Mutter sah ein trotziges, wütendes Kind. Ich sah ein verzweifeltes Kind voller Angst.
Wie kommt das? Kinder, die nicht in ihrer leiblichen Familie aufwachsen, haben immer ein Trauma erlebt. Sogar die Kinder, die direkt nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt worden sind. Denn die Mutter, in deren Bauch sie waren, die sie gerochen, gehört, gefühlt und geschmeckt haben, die ist plötzlich weg. Oft gibt es auch noch unangenehme Empfindungen aus der Schwangerschaft. Vielleicht haben die Ungeborenen den Stress der Mutter durch die ungewollte Schwangerschaft mitbekommen, vielleicht auch Drogen und/oder Alkohol, vielleicht auch eine dramatische Geburt. Je länger die Kinder in der Herkunftsfamilie waren, desto mehr Probleme können sie mitbekommen haben, wegen derer sie ja letztendlich in eine Pflegefamilie kamen.
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Die Verletzung des Urvertrauens, der Verlust der ersten Bezugsperson(en) und die Beeinträchtigung der Sicherheit haben natürlich Folgen. Wir Erwachsene können oft gar nicht nachempfinden, warum eine Kleinigkeit im Alltag so eine große Reaktion beim Kind hervorrufen kann. Deshalb ist es so wichtig, genau hinzuschauen:
Was sehe ich da wirklich? Wie wirkt das Kind auf mich? Was kann ich in seinem Gesicht lesen? Was sagen seine Augen? Wie schlimm ist der Ausbruch tatsächlich?
Im besten Falle bewirkt so eine ruhige Gegenreaktion sogar schon eine Beruhigung. Die Mama oder der Papa bleibt ruhig, beobachtet und zeigt damit ihr / sein Interesse an dem Kind. Denn hinter den Problemen steckt die Angst des Kindes, nicht gut genug zu sein und deshalb dem Gegenüber auch nicht wichtig zu sein. Das Kind weiß nicht, dass seine leiblichen Eltern Probleme hatten. Es gibt sich selbst die Schuld. Wenn es nur besser gewesen wäre. Netter. Freundlicher, Geschickter. Klüger. Ruhiger. Dann wäre das alles nicht passiert. Dann hätten die Eltern es lieb gehabt. Dann hätten die Eltern sich gesorgt und gekümmert. Dann hätten die Eltern nicht geschrien und geschlagen. Dann wäre all das nicht passiert und es wäre noch „daheim“.
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Das Kind denkt, es wäre nicht gut genug. Nicht liebenswert. Denn es muss doch an ihm liegen – schließlich lieben doch alle Eltern ihre Kinder. Oder nicht? Ich habe mich jahrelang gefragt, was denn mit mir nicht stimmt, dass ich nicht bei meiner Mutter leben darf. Zu dieser Zeit gab es kaum geschiedene Eltern. Nicht in meiner Jahrgangsstufe und nicht in meiner Grundschule. Ich war die große Ausnahme. Meine Eltern waren nicht nur geschieden, ich wohnte nicht mal bei meiner Mutter. Denn so hätte es doch sein sollen, oder? Es kam immer wieder auf, man konnte es gar nicht verdrängen. Fremde Menschen, die nachfragten. Lehrer, die sich wunderten, weil die Unterschrift einen anderen Namen hatte. Mütter von Schulfreundinnen, die die Eltern anrufen wollten. Jeder ging ganz automatisch davon aus, dass man bei seiner Mutter wohnt. Heute ist das anders. Heute gibt es so viele Patchworkfamilien, dass ein anderer Nachname gar nicht mehr auffällt. Damals hat es mich fast täglich daran erinnert, dass ich anders bin als alle anderen. Es gab immer wieder einen kleinen Stich. Ich war ein Außenseiter.
Ein Kind, das sich so fühlt, das kann manchmal gar keine Liebe annehmen. Weil es Angst hat, dass sie auf einmal wieder weg ist. Ist schon mal passiert, kann also wieder so sein. Die Enttäuschung sitzt tief und deshalb dauert die Heilung auch so lange. Es kann gar nicht so richtig glauben, dass es jetzt anders sein soll. Sicher. Deshalb testet es manchmal auch aus: was passiert denn, wenn ich (wieder) nicht lieb bin? Wenn ich schreie und trete? Wenn ich mir vor lauter Überforderung einfach mal alle vom Hals halten will und keine Berührung ertragen kann? Wenn ich mich so über mich selbst ärgere, weil ich etwas nicht kann, dass ich total ausflippe? Wenn ich den Familienausflug sabottiere, weil ich von all den neuen Eindrücken total überwältigt bin und sie nicht mehr verarbeiten kann? Was passiert dann?
Nein, das ist nicht einfach für die Pflegeeltern. Oft kennen sie die Hintergründe nicht, weil ihnen dafür ein paar Jahre Lebenszeit dieses Kindes fehlen. Deshalb ist es eine gute Idee, ruhig zu bleiben und zu beobachten. Die Situation wahrzunehmen. Das Kind wahrzunehmen. Und auch die eigenen Gefühle wahrzunehmen. Denn wir Eltern haben manchmal eine richtig gute Intuition, was das Kind jetzt braucht – wenn wir uns die Zeit nehmen, auf unsere Intuition zu hören.