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Wie hast du dich als Pflegekind gefühlt?

Wie hast du dich als Pflegekind gefühlt?

Manchmal schreibe ich längere Zeit keinen Blogartikel. Ich möchte nicht in einen von außen aufgezwungenen Rhythmus verfallen, bei dem ich jeden Dienstag etwas schreiben „muss“, damit ich meine Follower nicht verliere. Freiheit ist einer meiner höchsten Werte und die lasse ich mir nicht durch Regeln einschränken, die irgendjemand mal erfunden hat. Im Gegenteil, ich wundere mich meistens, wie selbstverständlich das für andere ist, die verzweifelt nach einem Thema suchen und auch am Wochenende oder auf Ausflügen krampfhaft posten und liken und kommentieren – ohne im Hier und Jetzt zu sein. Aber das kann natürlich jeder so machen, wie er es gut findet. Für mich ist das nichts. Also wie gesagt, wenn mir nichts intuitiv in die Feder fließt (oder in die Tastatur), dann lasse ich es sein. Aber heute morgen hat mich die Frage einer Pflegemutter per privater Nachricht tief berührt: „Wie hast du dich als Pflegekind gefühlt?“

 

Das ist gar keine so einfache Frage. Ich musste nachdenken. Auch, was ich von mir preisgebe. Natürlich ist es für jedes Pflegekind anders. Und trotzdem gibt es Parallelen. Mir wird ganz warm ums Herz, wenn eine Pflegemama oder ein Pflegevater versucht, sich in ihr / sein Kind hineinzufühlen, um es besser verstehen zu können. Welch ein Liebesbeweis.

„Pflegekinder leben ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie“.

Viele verstehen nicht, dass alleine diese Tatsache bereits ein Trauma ist. Sie denken, dass die Kinder ja noch ganz klein waren. Dass sie nicht alles mitbekommen haben. Oder inzwischen schon so viel Zeit vergangen ist, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern können. DAS STIMMT NICHT. Dieser Satz IST ein einziges Trauma.

Als ich klein war, gab es kaum geschiedene Eltern. Weder in meiner Schulklasse noch in meinem Jahrgang lernte ich Kinder kennen, deren Eltern nicht mehr zusammen lebten. Und selbst wenn, dann wohnten die Kinder bei ihrer Mama und ihren Geschwistern. Der Papa wollte sie am Wochenende sehen und in den Ferien und an Feiertagen und…. Diese Kinder waren gewollt. Gewollt von ihrer Familie. Während meine eigene Mama beschlossen hat, dass ein Leben ohne mich viel besser ist. Man muss keine Rücksicht nehmen, sich nicht kümmern und kann machen, was man will. Also ist sie einfach in ihr neues Leben gegangen und hat mich zurück gelassen. Dort, wo sie selbst es nicht mehr ausgehalten hat. Aber für mich war das wohl vollkommen okay.

Ich habe lange gebraucht um zu verstehen, dass auch der Weggang meines Vaters ein (weiteres) Trauma war. Das war komplett überlagert von anderen Ereignissen. Wer braucht denn schon einen Vater, wenn er keine Mutter hat? Aber ja, ich hatte auch keinen Vater. Da war niemand, der mich am Wochenende sehen wollte. Oder in den Ferien. Meine Mutter hat mich immer vertröstet, dass sie ja „bald“ wieder kommt. Wie kann ein kleines Kind verstehen, dass „bald“ vielleicht erst in einem Jahr ist? Dass die Mutter nicht mal an Geburtstagen oder Weihnachten vorbeikommen will? Ich dachte immer, sie wohnt Hunderte von Kilometern entfernt und die Busfahrkarte kostet ein Vermögen. Dabei waren es nur 20 km und sie hätte jederzeit kommen können. Aber so denkt ein Kind nicht. Ein Kind sucht Erklärungen und Entschuldigungen für die Menschen, die es liebt. Warum kommt meine Mama nicht? Sie muss so viel arbeiten und der Weg ist zu weit und sie muss so lange mit dem Bus fahren und so viel Geld hat sie nicht und…. Alles, wirklich alles ist besser als zu spüren: „Ich bin es ihr nicht wert“.

Tja, ich war es ihr tatsächlich nicht wert. Ich war es auch nicht wert, dass mein Vater sich für mich interessiert. Zwei Pflichtbesuche im Jahr, bei denen auch noch geklärt wurde, dass er gerade gar kein Geld für meinen Unterhalt hat. Ich war niemandem auch nur 50 DM wert. Weil alles andere im neuen Leben wichtiger war als ich. Auch die „neuen“ Kinder. Bei denen klappte es – bei mir nicht. Aber ich hatte ja einen guten Abstellplatz. Ich existierte irgendwie überhaupt nicht mehr. Nur als innere Last, die man möglichst schnell möglichst weit wegschieben musste, damit man sich nicht an diesen Schandfleck in seiner Vergangenheit erinnern musste. Die berühmte Leiche im Keller. Da redet man auch nicht drüber, weil sonst irgendeine blöde Frage kommen könnte. Wie zum Beispiel: „Warum zur Hölle kümmerst du dich nicht um dein Kind?“

Auch wenn ich bewusst meine Eltern immer vor aller Kritik verteidigte, merkte ich natürlich, dass alle anderen in meinem Umfeld es irgendwie auch unter komplizierten Umständen hinbekamen, bei ihren Kindern zu sein. Nur bei mir klappte es nicht. War es dann nicht logisch, dass es an mir lag? Die Erkenntnis, die mein Unterbewusstsein ständig sendete, war: „Wenn alle Kinder bei ihren Eltern leben und nur ein Kind nicht, an wem liegt es dann? DU BIST ES NICHT WERT.“

Jeder nachdenkliche Blick, der auf mir ruhte, erinnerte mich daran, dass bei mir alles anders war. Ich sah meine Cousinen und Cousins, bei denen alles so ganz normal ablief. Sie hatten eine Mama und einen Papa, vielleicht sogar Geschwister. Natürlich bekamen sie auch mal Schimpfe, aber sie wurden halt auch in den Arm genommen, getröstet, beruhigt und geliebt. Sie hatten ein Zuhause, keine Abstell-Kammer. Sie durften frech sein, während ich mich verzweifelt abmühte, schon als kleines Kind immer perfekt zu sein, um nur keinen Grund dafür zu bieten, dass man mich nicht zu sich nimmt – falls man denn mal auf so eine Idee kommen würde.

Ich sah Freundinnen, deren Mama tagsüber für sie da war und deren Papa sich abends auf sie freute, wenn er von der Arbeit kam. Und ich war diejenige, die man fragte: „Warum lebst du denn nicht bei deinen Eltern?“ Was soll denn eine 6jährige darauf für eine schlaue Antwort geben? Jede Frage ein Stich ins Kinderherz. Meine Standardantwort war Abwehr pur: „Meine Mama ist ganz toll und hätte mich gerne bei sich.. Aber sie muss arbeiten und dann muss ja jemand auf mich aufpassen!“ Ist doch ganz logisch, oder?

Ja, genau so habe ich mich als Pflegekind gefühlt, um wieder auf die Ausgangsfrage zurückzukommen. Unerwünscht und ungeliebt. Eine Last. Ich habe mich gefühlt, als würde irgendetwas nicht mit mir stimmen. Als wäre ich irgendwie nicht richtig. Als wäre ich anders – und jeder könnte es mir ansehen. Deshalb habe ich mich auch immer so bemüht, glücklich und normal auszusehen. Denn diese Scham, dass jemand merken könnte, wie ich leide, war nicht zu ertragen. Das war sogar noch schlimmer als diese innere Einsamkeit.

Natürlich kann man verschiedene Lebensgeschichten nicht miteinander vergleichen. Aber ich denke, dass ein gemeinsamer Punkt ist, dass Pflegekinder nicht fühlen, dass sie einen Wert haben. Wenn schon die allerengsten Personen sie nicht wollen, wer soll sie denn dann mögen? Warum sind sie es nicht wert, dass ihre Eltern ihnen zuliebe mit Drogen oder Alkohol aufhören, die Auflagen des Jugendamtes erfüllen oder sich um ein „normales“ Familienleben bemühen? Was stimmt nicht mit ihnen?

Deshalb bin ich so dankbar, dass es Pflegeeltern gibt, die ihren Kindern jeden Tag ihre Liebe zeigen. Auch und besonders dann, wenn die Kinder schwierig sind. Sie zeigen ihnen damit, dass sie es wert sind. Sie sind es wert, geliebt zu werden.

Das ist wie Zauberpuste. Wie Heilsalbe auf Wunden. Mit Narben, die bleiben, aber bestenfalls immer mehr verblassen. 


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4 Antworten

  1. Alexandra VOGLER sagt:

    Vielen Dank für den tollen und tiefen Blogeintrag

  2. Veronika Kram sagt:

    Liebe Gabi,
    ich bin zutiefst berührt von deinem erzählen!
    Danke für dein mit hinein nehmen. Das öffnet mir noch ein Stück weit mehr die Augen.
    Liebe Grüße von Veronika

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