Ich lese manchmal (öfters) in den entsprechenden Gruppen von frisch gebackenen Pflegeeltern, die schon kürzeste Zeit nach Ankunft ihrer neuen Pflegekinder im unbekannten Zuhause anfangen, an Symptomen herumzudoktern, ein neues Verhalten anerziehen bzw ein altes Verhaltes aberziehen wollen und von Physiotherapie zu Musikstunde hetzen. Die „alten Hasen“ sind dann – zu Recht – entsetzt und machen darauf aufmerksam, wie viel das Kind gerade jetzt zu verarbeiten hat und dass es durch diese ganzen Aktionen total überfordert ist.
Dabei fällt mir dieser Unterschied in der Wahrnehmung auf. Ein paar Monate in der neuen Familie sind nämlich… nichts. Zu kurz zum richtigen Ankommen. Zu kurz, um die Komplexität einer Familie auch nur annähernd verstehen zu können. Zu kurz, um gefühlsmäßig anzuerkennen, dass man jetzt zu einem ganzen System gehört, zur Kernfamilie, aber auch zum erweiterten Familie mit all ihren Verwandten, die man ja nicht jeden Tag sieht, zum Bekanntenkreis, zur Nachbarschaft, zum neuen Wohnort, zum Kindergarten oder zur Schule mit all den neuen Regeln. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die alten Verbindungen durch die Besuchskontakte immer wieder aufgefrischt werden.
Ich bin mir aber auch sicher, dass die neuen Pflegeeltern es einfach nur gut meinen. Ihre Wahrnehmung funktioniert nur wahrscheinlich ganz anders. Ihre Zeitrechnung beginnt wahrscheinlich schon vorher, nämlich bei der Spannung und bei der Vorfreude auf das neue Familienmitglied. Auch ihr Leben wird durch den Neuzugang komplett auf den Kopf gestellt. Alles wird umgekrempelt: die Wohnung, um ein neues Traum-Kinderzimmer zu schaffen. Die Arbeitssituation, um eine nahtlose Betreuung zu gewährleisten. Und der Tagesablauf, der plötzlich von einem Kind bestimmt wird. Hinzu kommt: die Anbahnung dauert – gefühlsmäßig – schon lange. Man sieht das Kind schon in Gedanken in der eigenen Familie leben. Jede Abgabe bei der Bereitschaftpflegefamilie tut weh. Bei Kindern, die eine Bindungsstörung mit Enthemmung haben, wird es noch schlimmer. Man sieht, wie das Kind sich wehrt, wenn es zurück gebracht wird. Das Gefühl, dass man füreinander bestimmt ist und jede Trennung dem Kind schadet, wird übermächtig. Und dann ist es endlich so weit: das Kind darf einziehen.
Wenn das Kind sich (nach außen hin) schnell bindet, dann fühlen sich zwei Monate nach enorm viel Zeit an. Die neue Pflegefamilie hat das Kind also schon fest in ihre Gemeinschaft aufgenommen und vergisst immer mal wieder kurz, dass es sich nicht um ein eigenes, sondern um ein Pflegekind handelt. Natürlich will sie auch von Anfang an alles richtig machen und nichts versäumen. Eventuell bringen Fragen von Sachbearbeitern oder von Verwandten / Bekannten überhaupt erst die Idee auf, dass da „irgendetwas“ ist, woran man dringend arbeiten muss. Die Zubettgehsituation ist nicht so, wie man sich das vorher vorgestellt hat. Im Kopf hatte man ein Bild von einer Mama, die entspannt am Bett ihres Kindes sitzt und aus einem Märchenbuch liest, während das Kind sich zurücklehnt und die Augen schon vor Müdigkeit zufallen. Ein dicker Gute-Nacht-Kuss, noch einmal die Decke fürsorglich hochziehen und dann mit einem liebevollen Blick den Raum verlassen. Aber hey, warum ist das denn nicht so? Das Kind quengelt und kreischt schon Stunden vorher vor Übermüdung, lässt sich aber nicht ins Bett bringen. Es will sich nicht die Zähne putzen lassen, es will nicht baden und es will sich erst recht keinen Schlafanzug anziehen. Sobald die Pflegemutter oder der Pflegevater das Kinderzimmer verlassen, geht das Geschrei erst richtig los. Stundenlang dieses Theater, bis die Erwachsenen nach zwei Wochen vor lauter Übermüdung nur noch auf dem Zahnfleisch kriechen.
Ähnlich auch die Essenssituation. Wie schön hat man sich das vorgestellt, dass das Kind, das vorher nur unzureichend versorgt wurde und Hunger erleiden musste, nun endlich gesund und vollwertig ernährt wird. Quasi Liebe aufs Brot geschmiert. Und was macht das Kind? Es plärrt, sobald es etwas essen soll. Es mag weder Obst noch Gemüse. Suppen und Soßen auch nicht, in die man alles rein schmuggeln kann, was Kinder nicht so gerne essen. Kartoffeln und Nudeln pur werden angenommen, aber ohne jeden Zusatz und in quälender Langsamkeit. Das macht keinen Spaß und die Stimmung am Tisch ist gereizt.
Da ist es doch kein Wunder, dass frischgebackene Pflegeeltern unsicher werden und um Rat fragen. Es ist alles so ganz anders, als man sich das vorgestellt hatte. Nun ja, das weiß man ja – aber SO anders? Wenn dann noch die ganzen Besserwisser ankommen, die ihr eigenes Rezept als allgemeingültig betrachten und das Schreien-lassen favorisieren, damit das Kind einem nicht auf der Nase rumtanzt oder der Essensentzug, der da lautet: „Du bekommst nur was zu essen, wenn du dich auch anständig benimmst“…. dann oh weh.
Denn das Kind ist immer noch in einer ganz anderen Zeitrechnung unterwegs. Nach der anfänglichen Anpassungsphase kommt jetzt das Testen: „Haben die mich hier wirklich lieb? Was passiert, wenn ich nicht brav bin? Schicken die mich dann zurück?“ Das läuft unbewusst ab, nicht bewusst im Sinne von Ausprobieren und etwas Vorspielen. Ängste kommen auf. Alte Muster zeigen sich. Unsicherheit durchdringt alles. Die Frage ist eigentlich: „Mag diese Familie mich auch, wenn ich mich so zeige, wie ich wirklich bin?“
Deshalb ist es so wichtig, das Kind auch tatsächlich zu verstehen. Es braucht die Sicherheit, dass es mit all seinen Macken und Fehlern akzeptiert und geliebt wird. Wir WISSEN nicht, was es in seiner ersten Zeit darüber gelernt hat. Was löst der Satz „So hab ich dich aber nicht lieb, wenn du xy machst!“ in einem kleinen Kind aus und wie oft muss es das Gegenteil hören, damit es ihn wieder aus diesem Gefühl des Ungeliebtseins heraus bekommt? Wir WISSEN auch nicht, warum und wovor das Kind Angst hat. Wenn das Mittagessen angstbesetzt ist, weil es dabei erlebt hat, dass jemand am Tisch ausgeflippt ist und mit Geschirr um sich geworfen hat, dann fühlt es sich unsicher, voller böser Vorahnung und steht unter einer enormen inneren Anspannung. Es kann das gemeinsame Familienleben einfach nicht genießen – vorerst. Pflegeeltern haben im Normalfall keine Kenntnis von solchen Erfahrungen. Aber sie können immer davon ausgehen, dass das Verhalten eines Kindes einen GRUND hat. Den muss man gar nicht „kennen“ – nur „anerkennen“, dass es ihn mit absoluter Sicherheit gibt.
Ja, die Realität sieht oft ganz anders aus, als man sich das vorher in seiner Euphorie ausgemacht hat. Ja, diese Unsicherheit, ob man das Richtige macht, treibt einen dazu, alle möglichen Leute nach Rat zu befragen. Ja, auf der Suche nach Lösungen für ein Problem versucht man vieles nach dem Motto: es könnte ja auch dies sein oder vielleicht jenes. Es soll ja auch nichts unentdeckt bleiben.
Aber der erste Weg sollte sein:
- die Situation mit all ihren Facetten zuerst einmal annehmen
- akzeptieren, dass dieses Kind in dieser Familie zu diesen Zeitpunkt genau dieses Verhalten zeigt
- genau hinschauen, welche Gefühle in einem selbst auftauchen
- beobachten, welche Gefühle man beim Kind erkennen kann
- dem Kind die Zeit lassen, die es braucht
- Geduld und Verständnis für das Kind zeigen – aber auch für sich selbst
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Dieser Kurs ist ganz anders als andere Kurse. Es geht nicht um Informationen oder um reine Wissensvermittlung. Es geht mir um Gefühle. Um die Gefühle der Kinder, aber auch um die Gefühle der Eltern. Wenn man die Kinder versteht, wirklich aus tiefstem Herzen versteht, dann weiß man einfach, wie man sich verhalten soll. Dann prallen all diese Besserwisser-Meinungen an einem ab und man ist plötzlich ganz tief in sich drinnen absolut sicher. Diese Sicherheit schwappt auf das Kind über und heilt seine eigene innere Unsicherheit. Wenn man mit dem Herzen versteht, dann geht alles plötzlich ganz leicht.