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Graadeselätz

Allgemein

In meiner Kindheit bin ich sehr eingeschränkt worden. Mein kleines Leben war voller „Du musst“ und „Du darfst nicht“. Jede Stunde war durchgetaktet. Ich lebte bei Oma und Opa, die durch ihr Alter und ihre eigenen Lebensgeschichten ganz andere Ansichten und Angewohnheiten hatten als die Eltern meiner Freundinnen. Ich war quasi eine Generation zurück. Es gab jede Menge Regeln und Vorschriften. Morgens stand ich auf und machte DIES. Danach machte ich DAS. Mittags kam JENES und abends dann ANDERES. Immer war das, was ich machte, von außen bestimmt. MAN macht das halt so. Man machte es so, wie es gemacht werden muss, weil das irgendwann einmal von irgendwem beschlossen worden ist und nun Gesetz ist. Es wurde nie nach besseren Möglichkeiten gesucht, weil es den Gedanken an andere Möglichkeiten gar nicht erst gab. Zum Frühstück gibt es nicht das, was man gerne möchte, sondern ein Brot mit Marmelade oder Honig. Abends hingegen gibt es ein Brot mit Wurst oder Käse. Niemals umgekehrt. Mittags gibt es warmes Essen und niemals nie nicht auf gar keinen Fall gibt es das Essen (oder die Reste davon) zu einer anderen Uhrzeit. Samstag morgens wird die Strasse gekehrt und die Treppe geputzt. Montag und Freitag wird eingekauft. Und wenn es an einem normalen Mittwoch einen Erdbeerkuchen gab, weil eine Tante ihn mitgebracht hatte, dann kam das schon einer Revolution gleich. 

Diese Äußerlichkeiten waren aber ganz banal gegen die Inneren Ge- und Verbotsschilder. Du darfst den Mund nicht aufmachen, wenn andere (Erwachsene) reden. Du musst ganz unauffällig und leise sein. Auf gar keinen Fall darfst du laut lachen oder rumhampeln. Du musst abends früh ins Bett, weil Kinder um diese Uhrzeit ins Bett gehen (ob müde oder nicht). Du darfst auf gar keinen Fall dein Kleid dreckig machen. Die Haare müssen geflochten werden. Und überhaupt muss man sich an Regeln und Gebote halten. Immer. Nachfragen ist nicht erwünscht. 

Was sollte denn mit dieser Erziehung mal aus mir werden? Ich GLAUBE, dass Oma mich als Hausfrau und Mutter gesehen hat, weil sie einfach nicht weiter sehen konnte. Für sie war ja gedanklich nur möglich, was sie und ihre Töchter geworden sind. Bücher lesen war etwas für Faule, die sich vor der (Haus-)Arbeit drücken wollten. Ich WEISS, dass Opa mich in einem Beruf gesehen hat und ihm meine schulische Ausbildung sehr wichtig war. Er wollte, dass ich unabhängig werde und mein eigenes Geld verdiene. Wahrscheinlich als Gehilfin bei Arzt, Anwalt oder….. nun, es ist bestimmt kein Zufall, dass ich eine Ausbildung als Fachgehilfin für steuer- und wirtschaftsberatende Berufe gemacht habe  Als ich irgendwann anfing, mich per Fernkurs auf mein Abi vorzubereiten, um anschließend studieren zu können, war ich natürlich der Exot. Die, die das niemals fertig machen würde, weil es nur Träumereien sind. Blödsinn. Zeitverschwendung. Ich sollte wirklich besser mal den Flur putzen, der hat es nötig. Zum Glück habe ich in meinem Inneren ein unglaublich trotziges Kind. Dieses Kind denkt ständig „graadselätz“ – saarländisch für „Jetzt erst recht“. Also hab ich graadselätz mein Abi gemacht, mein Studium (obwohl mein Prof vor der Diplomarbeit sagte, das würde ich nicht schaffen – aber graadselätz….), wurde selbständig und treibe mich nun den ganzen Tag in der Online-Welt rum. Dabei ist all das, was ich als Kind beigebracht bekommen habe, von Nachteil. Was machst du denn in der Onlinewelt, wenn du immer ruhig und unauffällig sein sollst? Wie weit kommst du generell in der Arbeitswelt, wenn du immer den Mund hältst und nix sagst, bist du gefragt wirst? Wie fit bist du tagsüber, wenn du dich gegen deinen Biorhythmus morgens früh aus dem Bett quälst und abends schlaflos hin- und herdrehst? Das funktioniert nicht. Aber immer nur trotzig das Gegenteil machen bringt dich auch nicht weiter. Weil es nicht DEINS ist. Nicht deine eigene Entscheidung nach deinen eigenen Bedürfnissen. Sondern immer noch fremd-bestimmt, nur andersrum. 

Das Fatale daran ist, dass man gar nicht merkt, dass all diese Glaubenssätze und Überzeugungen von anderen Leuten und aus komplett anderen Lebensumständen stammen. Sie werden erst gar nicht in Frage gestellt, weil man sich ihrer noch nicht mal bewusst ist. Heute würde kaum noch jemand sagen, dass Treppe putzen wichtiger ist als ein Buch zur persönlichen Weiterentwicklung zu lesen. ABER….. wie viele Frauen handeln denn noch danach? „Ich habe gar keine Zeit, etwas für mich zu machen, weil ich so viel Arbeit habe!“ Das ist die modernere Variante der Treppenputz- und Strassenkehrgeschichte. Allgemein von außen akzeptiert. Deshalb als gut und richtig befunden. Und niemals hinterfragt.

Oftmals bringen nicht die richtigen Antworten einen Menschen weiter, sondern die richtigen Fragen. Deshalb frag dich, ob du tatsächlich das Leben lebst, das du leben willst. Was sind DEINE EIGENEN Werte? Was ist wichtig für DICH? Wie wichtig ist dir Freiheit und Selbstbestimmung? Und lebst du das auch? Gibst du es an deine Kinder weiter?

Ich bin ein Fan von Journaling. Meine ganze persönliche Weiterentwicklung beruht auf Lesen und auf Tagebuchschreiben.  Deshalb stell dir diese Fragen und schreib dir die Antworten auf. Immer und immer wieder. Glaubenssätze sitzen so tief, dass ein einziges kurzes Überlegen nichts bringt. Die Antworten liegen in deinem Unterbewusstsein und das Auftauchen muss ihnen erst mal erlaubt werden. Du findest sie oft in deinen Gefühlen – indem du zum Beispiel deinen Trotz hinterfragst. Mein Flur ist zum Beispiel ungeputzt, ich hab ständig Kaffee- oder Zahnpastaflecken auf meinen T-Shirts, esse morgens kalte Pizza, hänge um 2 Uhr morgens noch bei Facebook rum und selbst meine Haare weigern sich, geflochten und damit eingeengt zu sein :-). 

Graadselätz.

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